Loslassen
Der Duft von Neuanfang
I can live without you. U2-Fans erkennen womöglich den Fehler. Die ursprüngliche Textpassage des Liedes „With or Without You“, von U2, einer der größten Rockbands der Welt, lautet korrekterweise „I can´t live with or without you“. Lange habe ich als U2-Fan auch nach diesem Mantra gelebt. Hing fest an belasteten Dingen. Loslassen fiel mir äußerst schwer. Und das über viele Jahre sowie verschiedene Lebensbereiche hinweg. Doch nun habe ich es geschafft, mich gelöst. Und ich kann sehr gut ohne U2 leben. Was ist passiert?
Im Sommer 2018 besuchte ich ein U2-Konzert in der Mercedes-Benz Arena Berlin. Dieses Konzert sollte ein Schlüsselerlebnis für meinen Lösungsprozess darstellen.
Religion, Liebe und Politik waren schon immer die Haupthemen von U2. Doch für mich ist Bono als Kopf der Band über das Ziel hinausgeschossen. Zu oft waren seine mit immer mehr Nachdruck und Vehemenz herausgeschrienen Moralbotschaften zu hören. Die Musik, wegen der wir hauptsächlich dort waren, geriet somit immer mehr in den Hintergrund. Auch war die Qualität dieser über das gesamte Konzert hin schlecht. Warum?
Bonos Stimme hat in den letzten Jahren immer mehr gelitten. Klar, im Alter verliert unsere Stimme an Dynamik und Kraft. Durch regelmäßiges Training lässt sich dieser Effekt etwas aufhalten. Alkohol und Rauchen sind für die Stimme schädlich. So tat es mir leid zu sehen, wie Bono über die vergangenen Jahre zunehmend seine Stimme selbst zerstörte. Was anhand der letzten Alben und Konzerte deutlich zu beobachten war. Dennoch versuchte ich teils unbewusst, teils vorbewusst diesen Sachverhalt zu verklären und blieb U2 die letzten Jahre über treu. Bis zu diesem Konzert. Zu sehr hielt ich mich an die guten alten Tage der Band fest, verklärte zunehmend die Realität und ignorierte Auflösungserscheinungen.
Hinzu kam die Tatsache, dass die Musik aus meiner Sicht furchtbar abgemischt war. Einzelne Gittarrensounds klopften aufdringlich und schmerzhaft an meine Trommelfälle. Das habe ich bei vorherigen Shows schon ganz anders, passender gemixt, erlebt.
Weiterhin haben U2 für meinem Geschmack bei ihren Arbeiten an den letzten Alben zu sehr ihre Vergangenheit in Irland verarbeitet. Zu häufig wurden negativ getönte Dinge wie Tod, Krieg und Depression thematisiert. Es sind kaum substanzielle Weiterentwicklungen der Band zu beobachten, wenig positive Impulse zu vernehmen. Damals habe ich mich womöglich auch unter solchen dunklen Wolken wohlgefühlt. Heute tue ich das nicht mehr, will vermehrt positiven Wegen folgen. Der Wunsch, dort heraus zu wollen, hat wahrscheinlich den Lösungsprozess begünstigt.
Neben den beschriebenen Dingen ist auch sehr wenig an Energie von der Band zu mir durchgedrungen. Bei anderen Konzerten war ich ergriffen und bewegt. An diesem Tag herrschte Regungslosigkeit! Der sehr hohe Preis von 220 Euro für eine Karte hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Wow!
All dies zusammen ließ mich noch während des Konzerts nachdenklich werden und vor allem traurig sowie enttäuscht in meinen Sitz zurückfallen. Das war nicht mehr „mein U2“. Was half mir mich zu lösen? Es war wichtig, die Gefühle von Traurigkeit und Enttäuschung zuzulassen und auszuleben! Also lies ich die Tage darauf die Trauer zu und ja, es tat weh. Gleichzeitig machte ich mir Inhalte aus meiner Ausbildung zum Diplom-Psychologen bewusst, wonach das Zulassen von Traurigkeit einen Lösungsprozess unterstützen kann. Diese Emotion kann uns helfen, uns von einem wichtigen Ziel oder Bedürfnis zu lösen, welches wir nicht mehr erreichen oder befriedigen können. Das Gefühl Traurigkeit kann uns also bei einem Lösungsprozess helfen, wenn wir es zulassen und nicht verdrängen. So war es dann auch. Ich habe mich von U2 und der Vorstellung, dass sie noch eine dynamische Band sind, die mich umhaut wie auch mitreist, schmerzlich verabschiedet. Vorher habe ich mich getäuscht. Fortan bin ich ent-täuscht!
Als wäre es wie ein Symbol für die Richtigkeit des Lösungsprozesses gewesen, las ich am nächsten Tag, dass Bono beim zweiten Konzert am Folgetag die Stimme weggeblieben sei. Folglich musste das Konzert abgebrochen werden. In meiner Haltung bestätigend, nahm ich diese Botschaft zur Kenntnis.
Fortan habe ich die Band wie eine Expartnerin betrachtet. Alles, was mich an sie erinnerte, wurde weitestgehend entfernt. Poster, Facebook-Profilbilder, Alben im Auto… . Und ich kann heute sagen, bereits vier bis fünf Tage nach dem Konzert nahmen die oben beschriebenen Gefühle ab. Ich konnte von dort an, bis heute, gut mit der seelischen und physischen Trennung leben. Es war wie eine Befreiung. Denn, als der Schmerz ging, kam das Gefühl von Freiheit. Und was passiert häufig nach einer Loslösung? Richtig, die vermehrte Offenheit für neue Dinge.
Und so vollzog sich eine unbewusste Öffnung meines musikalischen Herzens, die mich losgelöst von alten Träumen, neuen Musikstücken widmen ließ. Nun stehen die „Imagine Dragons“ oder „Angels & Airwaves“ auf dem akustischen Speiseplan. Rockbands, die mich musikalisch erfrischen. Die Klänge dieser Stücke fühlen sich dynamisch an. Rhythmische Melodien gepaart mit kräftigen Stimmen. (Das ist kaum ein Vergleich zum derzeitigen U2.) Bei Ihnen verspüre ich neue Energie und fühle mich wie eine Blume, die aufblüht. Der Duft von Neuanfang, der durch das Loslassen von Verstaubtem erst ermöglicht wurde, ich mag Ihn!
